Kassandras Karriere

In Kassandras Dilemma – Oder: Was kann Friedens- und Konfliktforschung (Brunner 2016) habe ich die Position der (kritischen) Friedensforschung  am Beispiel der ‚sehenden Königstochter‘ aus Christa Wolfs Kassandra (1983) diskutiert.  Eine für meine damaligen Überlegungen zentrale Textstelle bei Wolfs Kassandra lautet: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?“ (Wolf 1983: 76) Die streitbare Autorin erörtert am Beispiel der mit Herrschaft und Privilegierung ringenden Protagonistin, wie schwierig es ist, Kritik an dominanten Diskursen und Praktiken der Gewalt zu üben, sich dabei Gehör zu verschaffen und eine alternative, friedensorientierte Perspektive zu entwickeln. Bis heute können wir von Wolfs Kassandra lernen. In der schillernden literarischen Figur, die zugleich privilegiert und widerständig ist, verleiht Wolf einer pazifistischen, herrschaftskritischen und feministischen Position eine von Stärke und Schwäche, von Klarheit und Verunsicherung gezeichnete Stimme. Kassandra mag privilegiert sein – ihre Botschaft jedoch bleibt marginalisiert gegenüber dem hegemonialen Diskurs politischer, religiöser, sozialer und ökonomischer Eliten Trojas. Mit dieser Ambivalenz ringt sie ein widerspenstiges Leben lang. Ich möchte mit Wolfs literarischer Figur erneut über die relativ privilegierte und doch immer wieder vom Verschwinden, von Vereinnahmung und bisweilen von Verzweiflung bedrohte wissenschafts- und gesellschaftspolitische Position kritischer (Friedens-)Forschung nachdenken.